Wanderfahrt ins Zittauer Gebirge (23. - 28.05.2001)
23.05. - Anreise
Die Anreise verlief flott per Bundesbahn bis Dresden-Neustadt, dann etwas gebremster per Regionalbahn, Bus, wieder Bahn und schließlich wieder Bus (wobei das Schleppen des Gepäcks für heute das Wandern ersetzen musste) durch die ganze Oberlausitz. Nachdem wir in der Rübezahlbaude in Waltersdorf, einem äußerst komfortablen Hotel, unsere Zimmer bezogen und uns von der langen Reise mit einem opulenten Mahl gestärkt hatten, klang für viele der Abend mit einem Spaziergang zur nächstgelegenen Baude aus. Einige setzten schon mal einen Fuß über die Grenze nach Tschechien, die direkt hinter dem Hotel beginnt und nur durch Schilder gekennzeichnet ist.
24.05. - 1.Wandertag
Traditionell erkundeten wir zunächst die nähere Umgebung. Wir bestiegen unseren Hausberg, die Lausche, mit 793 m der höchste Berg der Region und genossen die Aussicht in die Tschechoslowakei, nach Polen und in die Oberlausitz. Der Berg ist ein ehemaliger Vulkan, der durch die Sandsteinschicht gestoßen ist. Auf dem Kammweg bewegten wir uns entlang der Grenze und stiegen dann über Weberberg ab in Richtung Waltersdorf, ein lang gestrecktes Straßendorf mit hübschen Häuschen. Der Aufstieg zum Hotel, der ja am Vortag mit dem Bus so leicht erschien, machte in der Nachmittagswärme doch etlichen zu schaffen, obwohl wir am Ende nicht die Teerstraße, sondern einen schönen und schattigen Waldweg benutzten. Oben angelangt, staunten wir nicht schlecht über den Trubel an der Grenze - es war ja Himmelfahrt -. Viele von uns nutzten den schönen Biergarten unseres Wirtes zum Kaffeetrinken, einige dagegen den kleinen Grenzverkehr, um auf schlichten Holzbänken ein tschechisches Bier zu genießen.
Nach dem Abendessen zeigte uns Herr Johne, ein katholischer Pfarrer, der vom Bischof zur Betreuung der Urlauber eingesetzt ist, Dias von Sehenswürdigkeiten aus dem Zittauer Gebirge, wo die Sandsteine zu Formen wie "Teekanne", "Küken", "Dackel", "Schildkröte" oder gar zu "Nonnen" verwittern.
25.05. - 2.Wandertag
Wir wanderten zunächst vom Hotel aus bei strahlend blauem Himmel überwiegend durch Fichtenwald auf dem Hohlsteinweg zu den Nonnenfelsen. Von hier aus sahen wir die zahlreichen Sandsteinformationen in natura, die der Pfarrer uns am Vorabend vorgestellt hatte. Weiter führte uns der Weg zu den Jonsdorfer Mühlsteinbrüchen, die zu den beeindruckendsten Naturerlebnissen im Zittauer Gebirge gehören. Nach kurzer Rast und Fotografierpause auf den Orgeln kamen wir zur Steinbruchschmiede, wo die Werkzeuge für die vier einst vorhandenen Steinbrüche vorgerichtet wurden. Über den Kroatzbeerenwinkel gelangten wir auf dem Thomasweg zum Berg Oybin, der von den Resten einer Burg- und Klosterruine gekrönt wird. Als kleines Kuriosum gibt es hier eine Camera obscura, die uns von dem begeisterten Betreiber wortreich vorgeführt wurde. Es handelt sich um ein kleines Häuschen mit einer Öffnung im Dach, durch das Lichtstrahlen eintreten und auf dem Dach eines „Trabis“ ein umgekehrtes Bild erzeugen.
Mit einer 100 Jahre alten Schmalspurbahn fuhren wir anschließend nach Zittau. Die größte Attraktion dieser Stadt ist zweifellos das Große Zittauer Fastentuch. Es entstand aus dem Brauch, während der Fastenzeit den Altar und andere Heiligtümer zu verhüllen; es sollte neben der körperlichen auch eine geistige Askese stattfinden. Das Fastentuch wurde 1472 von einem reichen Stoffkaufmann gestiftet. Es besteht aus feinstem Leinen, ist mit Wasserfarben bemalt und zeigt in 90 Darstellungen aus dem Alten und Neuen Testament sozusagen eine Kurzfassung der Bibel in mittelalterlichen Szenen und Versen, wirkt also fast wie ein „Bibel-Comic“. Das Fastentuch selbst hat eine Geschichte zu erzählen: Es war verschollen, wurde vergessen, unter einem Bücherregal wiedergefunden, zerrissen und von russischen Soldaten im Wald liegen gelassen. Erst 1994 konnte das zwar vollständige, aber schwer beschädigte Tuch in seinen 17 Teilen zusammengepuzzelt, gereinigt und dank der Stiftung eines Schweizer Stofffabrikanten restauriert werden. Es hat in einer riesigen Glasvitrine in der eigens umgebauten Kirche zum Heiligen Kreuz einen idealen Ausstellungsplatz gefunden.
26.05. - 3.Wandertag
Am Sonnabend fuhr uns ein Bus zur Kottmarsdorfer Mühle, die von einem Verein restauriert und gepflegt wird. Wir wanderten durch den Kottmarsdorfer Wald und machten Rast an der Quelle der Spree. Neugierig geworden durch Lautsprecherdurchsagen, die wiederholt einen gewissen Kurt begrüßten, näherten wir uns einer Sprungschanze, wo die Akteure statt im Schnee auf feuchten Matten landeten. Besonders hat uns imponiert, da sich auch etwa 14jhrige Mädchen an diesem Sport beteiligten. Leider mussten wir die Einladung zu Bier und Bratwurst ablehnen, da die Zeit drängte.
Auf dem Programm stand jetzt Obercunnersdorf. Es ist das Dorf in der Lausitz mit den meisten (250) sog. Umgebindehäusern. Über eine Blockstube, die aus Brettern gebildet wird, wird ein Fachwerkgerüst, das das Obergeschoß und das Dach trägt, gestülpt. Die Wände wurden früher mit Stroh und Lehm ausgefacht. Die Türen wurden durch Türstöcke aus Sandstein geschmückt, die Fassaden durch Schiefer verziert und gleichzeitig wetterfest gemacht. Ein Korbmacher, der in dem kleinsten, dem sog. Schunkelhaus, ein Museum eingerichtet hat, erläuterte uns stolz die außergewöhnliche Architektur: Auf ein winziges dreieckiges Grundstück, z. T. über einem Bach schwebend, hatte man diese kleinste Form eines Umgebindehauses gesetzt, ein typisches Auszüglerhaus, d. h. die Familie zog, wenn sie größer wurde, in ein geräumigeres Anwesen.
Nach einem Bummel durch das Örtchen, wo wir viele dieser für die Lausitz typischen Häuser in allen Größen und mit wunderschönen Verzierungen bestaunen konnten, brachte uns der Bus nach Herrnhut. Im dortigen Museum gab uns der für Missions- und Öffentlichkeitsarbeit zuständige Diakon zunächst einen Abriss zur Entstehung der Herrnhuter Brüdergemeine. Graf von Zinzendorf gewährte im Jahre 1722 Glaubensflüchtlingen aus Böhmen Asyl auf seinen Besitzungen und gründete eine christliche Lebensgemeinschaft. Um diese in den schwierigen Anfangsjahren zu festigen, formulierte er die Herrnhuter Losungen, die noch heute jedes Jahr in einer Millionenauflage weltweit in 47 Sprachen herausgegeben werden. Dabei werden für jeden Tag des Jahres ein Bibelvers aus dem Alten und einer aus dem Neuen Testament in Beziehung zueinander gebracht, dazu ein Lied- oder Gebetsvers. Die Lebenshaltung der Herrnhuter war bewusste schlicht, was sich auch in ihrer Kirche (kein Altar, kein Schmuck) und auf ihrem Friedhof, dem Gottesacker, mit 6000 flachen Steinen widerspiegelt.
Auf dem Rückweg bot sich uns vom Bus aus eine großartige Sicht auf die Gebirgsketten von Riesengebirge, Isergebirge und unsere Zittauer Berge.
Abends gab es im Hotel Tanzmusik mit Einlagen, wobei Peter Bülk mit seiner Damenwahl-Kostümierung den Profis die Schau stahl.
27.05. - 4.Wandertag
Dietrich, der die Gegend von Kindheit an kennt, hatte einen Ortskundigen engagiert. Hans, ein lustiger Vogel aus Waltersdorf, führte uns also über die Grenze in die Tschechoslowakei. In diesem grenznahen Gebiet haben sich die Menschen, da hier nur äußerst schwer Landwirtschaft zu betreiben ist, fast vollkommen zurückgezogen und das Land wieder der Natur überlassen. So gibt es Bergwiesen mit seltenen Blumen, die nicht oft oder gar nicht mehr gemäht werden, und verlassene Bauernhäuser, die nur noch zum Wochenende aufgesucht werden. Unser Weg führte uns über Myslivny (Jägerdörfel) und Horni Svetla (Oberlichtenwalde) nach Nadeje (Hoffnung). Dort nahmen wir in einem landestypischen Gasthof ein entsprechendes Mittagessen ein: böhmische Knödel mit Gulasch und Kraut.
Hans pflegte seine Ausführungen durch Imitationen von Vogelstimmen zu würzen und unser Kommen in bewohnten Gegenden durch lautes Jodeln anzukündigen. Er machte uns immer wieder auf verborgene Dinge aufmerksam, wie z. B. ein verwittertes Heiligenbild aus Sandstein, Reste einer Wassermühle oder behauene Steine, an denen früher Zeltbahnen befestigt wurden , und unter denen sich die Bevölkerung mit ihrem Vieh versteckte, wenn Plünderer durch das Land zogen.
Auf vermutlich alten Schmugglerwegen führte er uns schließlich nach Dolni Svetla (Niederlichtenwald), wo wir bei seinem Spezi Joschi in einer Schweijk-artigen Atmosphäre Kaffee türkisch, Eis, Palatschinken und Kuchen verdrückten.
Abends hatten wir - sehr zum Erstaunen des Küchenpersonals - wieder einen gesegneten Appetit und deshalb schwierige Entscheidungen zu treffen in Bezug auf Vorspeise - Hauptgericht - Dessert.
Das von Karl verfasste Drama "Rübezahls Geheimnis" wurde anschließend mit viel Engagement dargeboten.
28.05. - Abreisetag
Ich kann mir vorstellen, dass unser Wirt, Herr Hüttel, froh war, uns los zu sein, denn sein großzügiges Angebot, à la carte zu essen, was und so viel wir wollten, haben wir ziemlich schamlos ausgenutzt. Die Bahnfahrt von Zittau nach Görlitz führte uns entlang der Neiße, z. T. durch polnisches Gebiet.
Unser Stadtführer holte uns vom Bahnhof ab. Görlitz hatte schon früh Eisenbahnanschluss. Zwischen dem Bahnhof und der Altstadt entwickelte sich ein neuer Stadtteil, dessen Architektur an Berlin orientiert mit neugotischen und jugendstilhaften Elementen, was sich besonders schön in der Straßburg-Passage, in den Gebäuden um den Postplatz, in dessen Zentrum ein schöner Brunnen steht - gekrönt von der "Muschelminna" -, sowie einzig original erhaltenen Karstadt-Kaufhaus von 1912 mit seinem großen Lichthof zeigt. Alle diese sind vorbildlich saniert.
Da sich im Mittelalter in der jetzigen Altstadt zwei Haupthandelswege Europas kreuzten, war Görlitz eine sehr reiche Stadt, die sich entsprechend schützen musste: einmal durch den Beitritt zum Sechs-Städtebund, zum anderen durch eine starke Stadtbefestigung mit vier Wehrtürmen, von denen drei erhalten sind und bis 1904 mit Türmern besetzt waren. Der Stadtführer zeigte uns zahlreiche Gebäude, die nach dem Verfall zu DDR-Zeiten jetzt wieder im neuen Glanz erstrahlen: z. B. das Haus am Obermarkt, von dessen Balkon aus Napoleon eine Truppenparade abgenommen haben soll, den Schönhof, ein Handelshaus mit Innenhof, die Zeile mit der Waage, in der im Mittelalter die Waren gewogen wurden, das Rathaus mit der Rathaustreppe und den Rathausturm mit der Uhr mit zwei Zifferblättern, die alte Ratsapotheke mit ungewöhnlicher Sonnenuhr. Nachdem wir den Stadtrundgang am neuen Rathaus mit den Wappen des Sechs-Städtebundes beendet hatten, nahmen wir in den urigen Kellern des historischen Lokals "Dreibeiniger Hund" unsere Henkersmahlzeit ein.
Nachsatz:
Wir danken unserem Wanderführer Dietrich Materne, der uns mit dem Zittauer Gebirge in ein Stück Deutschland geführt hat, dessen Existenz vielen von uns bisher so gut wie unbekannt war. Umso mehr wurden wir von dem Liebreiz dieses südöstlichsten Zipfels im Dreiländereck Polen, Tschechien und Deutschland überrascht.
Bericht: Ursula Lilienfein